Wir stehen heute wenige Tage vor dem 25. Jahrestag des Mauerfalls. Der 9. November 1989 ist das Symbol: Die Menschen in der DDR und im gesamten Ostblock erkämpften ihre Freiheit. Die Freiheit, wählen zu dürfen, reisen zu dürfen, offen reden und denken zu dürfen. Alles so, wie man es selber will und nicht, wie es sich greise, der Welt entrückte, Funktionäre ausmalten. Dass die Welt fortan eine andere war, verdanken wir jenen, die mutig im Herbst 1989 für Freiheit und Demokratie auf die Straße gegangen sind. Ihre Forderung nach Mitsprache, vor allem aber ihr Ruf „Wir sind das Volk!“, hat das Fundament geschaffen, auf dem unsere Demokratie heute steht.

Dass SPD und Bündnis90/Die Grünen in eine Regierung unter Führung der Linkspartei einsteigen, die am Tag des Mauerfalls noch SED hieß, hätten sich vor 25 Jahren und auch noch vor ein paar Wochen wenige Thüringer träumen lassen. Keine der drei Parteien kann für sich beanspruchen, dafür am 14. September 2014 einen Wählerauftrag erhalten zu haben. Die Linkspartei hat marginal zugelegt, zugleich aber mehrere Direktmandate verloren. Die Grünen haben an Zustimmung eingebüßt und die SPD hat ein Ergebnis erhalten, das man eben erhält, wenn kein Wähler weiß, was mit seiner Stimme geschieht. Rot-Rot-Grün hat in Summe massiv verloren. Dass diese Koalition der Wahlverlierer daraus einen Anspruch auf Politikwechsel formulieren ist mehr als kühn. Vielmehr noch: Eine rot-rot-grüne Einstimmenmehrheit im Landtag und die Tatsache, dass in der Linksfraktion zwei ehemalige Stasi-IM’s sitzen, bedeutet, dass die künftige Thüringer Regierung vom Wohlwollen dieser ehemaligen IM’s abhängt. Pointiert könnte man sagen, die Zukunft Thüringens bestimmen Stasi-IM’s. Da ist egal, ob Bodo Ramelow ausgeschlossen hat, belastete Abgeordnete zu Ministern zu machen.

Um den Schwenk zu begründen, versteigen sich jetzt Grüne und SPD in Interpretationen, wie sehr sie doch der Linken mit einer Unrechtsstaatsdebatte ihre geschichtliche Bewertung aufgezwungen hätten. In der Debatte um die Charakterisierung der DDR als Unrechtsstaat geht es jedoch nicht um die Vergangenheit, sondern um die Zukunft Thüringens. Denn die diskutierte Frage um Erinnerung, Zeitgeschichte, Politik und Recht ist lediglich ein Maßstab dafür, in welchem Umfang die LINKE die Grundlagen unseres freiheitlichen und demokratischen Gemeinwesens verinnerlicht und angenommen hat. Die geschichtliche Erfahrung des 20. Jahrhunderts spricht gegen die LINKE, die sich dazu bekennt, aus der SED hervorgegangenen zu sein. Deshalb müsste der Bruch mit der Vergangenheit umso klarer ausfallen.

Was wir stattdessen sehen, ist der mehr oder weniger durchsichtige Versuch, die von der SED errichtete Parteidiktatur auch im Nachhinein noch zu legitimieren. Das ist ein plumper Täuschungsversuch. Die Wurzel des Übels liegt nicht in der schrecklichen Herrschaftspraxis, sondern in der marxistisch-leninistischen Ideologie als deren Voraussetzung. In der Vorstellung einer in der Verfassung verankerten, in den Händen der SED monopolisierten Klassenherrschaft und in dem jeder Diskussion entzogenen uneingeschränkten Anspruch, die Gesellschaft, die Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur entlang dieser ideologischen Vorgaben auszurichten und engmaschig zu kontrollieren. Das ist etwas fundamental anderes als die auf die Volkssouveränität und den Rechtsstaat gestützte Demokratie.

Was in der Linkspartei seit Jahren geschieht, wiederholt sich in den letzten Wochen wie im Brennglas. Die Debatte über den Unrechtsstaat DDR zeigt auf bedrückende Art, dass die SED-Nachfolger sich auch heute noch weigern, Unrecht, das im Namen und im Auftrag dieser Partei begangen wurde, beim Namen zu nennen. Ina Leukefeld hat von einem „politischen Kampfbegriff“ gesprochen (und die Parteiführung der Linken hat nicht widersprochen). Leukefeld und viele andere lehnen es unmissverständlich ab, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen. Denn von dem, was die DDR im Kern war, wollen und können sich die SED-Nachfolger nicht distanzieren. Bodo Ramelow spielt selbst die Vereinbarung von Rot-Rot-Grün auf den Status einer Protokollnotiz herunter. Deutlicher als Gregor Gysi konnte man es nicht sagen: Was die Linke der SPD und den Grünen in den Koalitionsvertrag schreibt, ist das eine – was die Linke denkt, für richtig hält und sogar als Partei sagt, etwas völlig anderes.

Die DDR war ein Unrechtsstaat. Sie war dies, weil Unrecht vom ersten Tag ihres Bestehens Mittel der SED-Herrschaft war. Enteignung, Vertreibung und Umsiedlung, Bespitzelung, politische Haft, eingeschränkte Meinungsfreiheit. Millionen Menschen bekamen dies mit unerbittlicher Härte zu spüren. Was die Menschen von dem Versuch hielten, den Sozialismus aufzubauen, verdeutlichten sie durch massenhafte Flucht und den Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Am Ende wusste sich die SED nur noch zu helfen, indem sie ihr Staatsvolk einmauerte. Als sich die Chance bot, 1989/90, machten die Menschen diesem Spuk ein Ende. Dieses Unrecht war kein Betriebsunfall, sondern eine Leitvorstellung der SED. Rechtsbeugung war Programm. Dies mit Verweis auf den DDR-Wohnungsbau oder die Kinderbetreuung relativieren zu wollen, klingt wie Hohn – nicht nur in den Ohren der Millionen Bürger, die Opfer politischer Verfolgung wurden oder aus der DDR geflohen sind, sondern auch für die, die in diesem Staat gelebt haben.

Es gilt hellhörig zu werden, wenn die LINKE mit Blick auf ihre Vergangenheit als SED nicht zu absoluter Klarheit in der Lage ist, wenn sie ein offenbar unverlierbares Erbe hochhält. Welches denn? Es gilt hellhörig zu werden, wenn die Landesvorsitzende der LINKEN sagt, der Begriff des Unrechtsstaats beziehe sich „ausschließlich auf das Fehlen von freien Wahlen und auf die Willkür der Machthaber“. Geht der allumfassende Gestaltungsanspruch in Ordnung? Es gilt hellhörig zu werden, wenn ihr Stellvertreter, Steffen Dittes, die Kommunistische Plattform verteidigt oder bedauert, die gesellschaftspolitischen und bundespolitischen Rahmenbedingungen würden den Wandel einschränken, aber natürlich wolle man die auch verändern. Wandel mit welchem Ziel?

Hier berühren sich Vergangenheit und Zukunft. Zum Wesenskern der LINKEN gehören noch immer tiefe Eingriffe in den Bereich der Gesellschaft und der Wirtschaft: Ein übergriffiger Staat, der sich für klüger hält als die Einzelnen und die vielen widerstreitenden Kräfte einer pluralistischen Gesellschaft. Das unterscheidet die LINKE mit ihren kommunistischen Wurzeln übrigens deutlich von der SPD oder den Grünen – von der CDU sowieso, die den Einzelnen durch Bildung, soziale Förderung und gesicherte Rechte ermöglichen will, an den Früchten einer freien Gesellschaft und Wirtschaft Anteil zu haben. Der Unterschied mag in der praktischen Politik im Augenblick noch graduell sein, langfristig ist er entscheidend.

Wenn jetzt Frau Siegesmund schreibt, dass die Grünen darauf achten werden, dass die Linke sich an die Vereinbarung hält und diese preisen, dann klingt dies etwas hilflos. Schließlich haben sie sich bei der Vereinbarung mit der Linken austricksen lassen. Die führende Rolle und Verantwortung der SED, die 2009 noch klar benannt wurde, fehlt mittlerweile. Oder es sollte nur ein Placebo produziert werden, um den gesellschaftlichen und geschichtspolitischen Schwenk harmloser aussehen zu lassen.

Mit ihrer Entscheidung, einen Ministerpräsidenten der LINKEN in den Sattel zu heben, haben die SPD und die Grünen mehr als einen taktischen Schwenk vollzogen. Sie ordnen sich einem grundsätzlich anderen Politikansatz unter. Die LINKE versteht sich als Anker in einem Dreierbündnis und bestimmt damit auch den Radius, in dem sich das Schiff der Regierungspolitik in den Strömen der Zeit zukünftig bewegen soll. Thüringen soll nicht mehr aus der politischen Mitte heraus, sondern vom linken Rand her regiert werden. Es geht um einen fundamentalen Wandel mit Ansage. Ein Wandel, von dem keiner nachher sagen sollte, er hätte nicht gewusst, worauf er sich einlässt.

 

Namensartikel OTZ, 30.10.2014

Newsletter abonnieren

%d Bloggern gefällt das: