Eigentlich wird erst am Sonntag, 14. Oktober, in Bayern und am 28. Oktober in Hessen gewählt. Das Ergebnis für beide Länder kann womöglich aber jetzt schon entschieden sein. Das hängt damit zusammen, dass immer mehr Menschen schon Wochen vor dem Wahlsonntag ihre Stimme per Briefwahl abgeben. Zugleich kommt es auch immer stärker auf die letzten Stunden vor dem Urnengang am eigentlichen Wahlsonntag an, weil mancher Wähler bis kurz vor der Wahlkabine unsicher ist, wo er sein Kreuz machen soll. Das macht das Wahlkämpfen heutzutage so schwierig.

Immer öfter lange vor der Wahl zur Stimmabgabe

Professor Mario Voigt, Landtagsabgeordneter der Thüringer CDU, Vize der Landespartei und zugleich Politikwissenschaftler, befasst sich seit Jahren intensiv mit Wahlen und Wählern – und zwar nicht nur in Thüringen, sondern bundesweit und auch mit Blick auf die USA. Im Westen und zunächst auch im vereinten Deutschland, sagt er, konnte davon ausgegangen werden, dass die ganz große Mehrheit der Wähler am Wahltag ins Wahllokal ging, um dort ihre Stimme abzugeben – und viele wussten lange vorher, wer diese Stimme erhalten sollte und wer nicht. Den letzten Hinweis gab in den südlichen Bundesländern vor Jahrzehnten oft der Pfarrer im katholischen Sonntagsgottesdienst. Das alles ist Vergangenheit. Und deshalb braucht es umso nötiger Experten wie Voigt, die Wahlkämpfern sagen können, wie sich Wähler heute orientieren – und welche Rolle dabei moderne Formen des Wahlkampfes spielen.

„Mittlerweile treffen viele ihre Wahlentscheidung viel früher“, sagt der Professor und aktive Politiker mit Verweis darauf, dass „mehr als jeder Vierte bei der Bundestagswahl 2017 Briefwähler war“. Etwa fünf Wochen vor dem eigentlichen Wahltermin ist Briefwahl meist möglich. „Wenn aber 30 Prozent vor dem eigentlichen Wahltermin ihre Stimme abgeben, ändert sich auch das Kommunikationsverhalten“, so seine Einschätzung.

Noch mal ein Blick zurück: Bei den Briefwählern habe die Union bei der Bundestagswahl 2017 um eineinhalb Punkte besser abgeschnitten als bei denen, die ihre Entscheidung erst am Wahlsonntag in der Wahlkabine endgültig machten. Mancher ist sich zwar beim Gang zur Wahlkabine lange schon sicher, wen er wählt. Aber: „30 Prozent der Wähler entscheiden sich erst in den letzten sieben Tagen“, so Voigt. Für Wahlkämpfer heißt das: einerseits müssen sie frühzeitig jene erreichen, die schon einen Monat vor der Wahl per Brief endgültig abstimmen wollen, andererseits müssen Wahlkämpfer fast bis zum Ende des Wahlsonntags an möglichen Unentschlossenen dranbleiben.

In seiner Trendstudie „Digital Campaigning in der Bundestagswahl 2017“ haben sich Voigt und sein Kollege René Seidenglanz von der Quadriga Hochschule Berlin damit beschäftigt, wie Parteien über Facebook, Twitter, Instagram, Youtube und E-Mail vom 1. August bis zum Wahlsonntag Ende September 2017 umgegangen sind. Auf dem ersten Platz landen demnach SPD und AfD. „Die Sozialdemokraten verstanden es, sich auf allen Plattformen zu vernetzen, mit relativ vielen Informationen eine höhere Teilhabe als Vergleichsparteien zu erreichen.

Dagegen punktete die AfD besonders mit ihrer plattformübergreifend hohen Mobilisierung durch relativ viele Informationen“, so Voigt und Seidenglanz. „Wir erleben die digitale Disruption des Politischen, wo die AfD in sozialen Medien ihre kommunikative Gegenmacht mit viel Geld und Daten aufbaut.“ Häufig ist von Voigt der Satz zu hören: „Facebook ist die Tagesschau der AfD.“ Das bedeutet, dass aus Sicht der Partei den Nutzer das Gefühl gegeben werden solle, dass das, was die AfD auf Facebook verbreitet, Relevanz hat und objektiven journalistischen Maßstäben entsprechen könnte, auch wenn es sich um aggressive PR in eigener Sache und nicht um Journalismus handelt.Die Grünen hätten sich der Vernetzungs- und Teilhabefunktion des Digital-Campaigning verschrieben – und waren so erfolgreicher als FDP, Linke und CDU, die „das Mittelfeld der Kampagnenparteien unter sich ausmachten“, so die Experten. „Während die Liberalen und Linken sich besonders durch eine hohe Vernetzung hervortaten, zeigten sich die Christdemokraten vor allem von der Informationsfunktion der Plattformen überzeugt. Die CSU kam auf den letzten Platz“, so Voigt.

Nach der Bundestagswahl ist vor zwei wichtigen Landtagswahlen in diesem Oktober. Die Experten haben schon mit Blick auf 2017 festgestellt, dass sich Wahlkampagnen dem Echtzeit-Wahlkampf zuwenden. Das entspreche den Erwartungen von Wählern und auch Journalisten, die den Wahlkampf und seine Interpretation etwa bei Twitter oder auf anderen Kanälen verfolgen, macht Voigt deutlich.

Der analoge Wahlkampf ist aber nicht vorbei. Vielmehr geht es heutzutage darum, dass etwa die Tippeltappeltour von Haustür zu Haustür „in Echtzeit mit Livebildern auch online“ präsentiert werde.

Die digitale Zeit hat eigene Gesetze, wenn es darum geht, auf sich aufmerksam zu machen: Einerseits müssen „Botschaften frühzeitig platziert werden, bevor der Nutzer schon wieder weiterklickt“, andererseits muss es auch für einen langen Kampagnenzeitraum etwas zu sagen geben, das nicht langweilt und zugleich Bestand hat.

Voigt erklärt, Parteien müssten künftig „noch stärker Stimmungen in Echtzeit messen, Argumente, Positionen und Auftritte prüfen“. Das Digitale entwickle sich dann „zu einem nahezu synchronen Feedbackkanal, über den man die Wirkung der Kampagne permanent optimiert“, so die Wahlkampf-Experten.

Daten, die von Parteien im Wahlkampf gesammelt und analysiert werden, erlauben immer stärker Vorhersagen. Umso bedeutender werde die digitale Strategie, um auf konkrete Gebiete bezogen zielgruppen- und themenspezifisch mobilisieren zu können. Voigt und sein Kollege machen auch deutlich: „Um die digitalen Kanäle zu reich- weitenstarken Werkzeugen auszubauen, kommt es zu einer Kombination von organischer und gekaufter Reichweite, die neue Ansprüche an die organisatorische Vernetzung zwischen Marketing, PR und Social Media- Team und an die Verteilung von Budgets in Kampagnen stellt.“ Und dabei sind Parteien und Politiker eher Getriebene als Treiber: Sie sehen sich mit immer größeren Erfordernissen der digitalen Kommunikation konfrontiert, macht Voigt deutlich.

Neue Möglichkeiten der Kommunikation nutzen

Die Entwicklung, die nicht mehr umkehrbar ist, lässt sich so zusammenfassen: „Die Wendung der politischen Kommunikation und deren Akteure hin zur Echtzeitkommunikation auf unterschiedlichen Plattformen führt zu einer wachsenden Sichtbarkeit von politischen Debatten und Inhalten.“

Allerdings stellt Voigt auch fest, dass sich diese Entwicklung von zwei Seiten betrachten lässt: Wenn etwa Zwischenstände aus Sondierungsrunden getwittert werden, könne man dies „wahlweise als erhöhte Transparenz oder als undichte Vertraulichkeit sehen“, so Voigt und Seidenglanz.

Der CDU-Landtagspolitiker und Partei-Vize Voigt betont:

„Parlamentarismus gewinnt mit der digitalen Kommunikation an Beteiligungsmöglichkeiten und dem dialogischen Bürgerkontakt. Das Digitale ist Teil des Politischen geworden. Das gilt einerseits, wenn es um die Inhalte geht, wo es eine digital denkende Gesetzgebung braucht. Andererseits wächst die Teilhabe, wenn es um Petitionen, Diskurse über Gesetze oder neue Initiativen geht.“

Dies geschehe in einer Zeit, die gekennzeichnet werde von einer politisierten Öffentlichkeit jenseits der Parteien, sich in geschlossenen Räumen konzen­triert, deren Tonalitäten und Schwerpunktsetzungen anderen Logiken folgt und damit Debatten um Fake News, Social Bots, Dark Ads oder Echo­kam­mern befeuern, wie Voigt und Seidenglanz zusammenfassen.

Neuerdings wird die Frage gestellt, ob sich in Deutschland der Wandel von der Mediendemokratie zur Social-Media-Demokratie vollziehe – und was dies für die Demokratie bedeutet.

Ein ordnungspolitischer Diskurs dringend nötig

Für Voigt und Seidenglanz folgt aus alledem dies: Abseits von den technologischen Herausforderungen um Breitbandausbau und 5G werde die aktuelle Bundesregierung gefordert sein, „einen ordnungspolitischen Diskurs über die Rolle der Digitalisierung für die Demokratie zu führen. Dabei wird es um transparente Gesetzgebungsverfahren, E-Government und digitale Beteiligungsformen gehen. Es wird die Frage nach Daten und deren Nutzung, nach einer Eigentumsordnung und einem Datengesetz aufkommen. Und schließlich werden Plattformen wie Facebook nach ihrer Rolle im demokratischen Prozess befragt werden“, so die Experten.

Wie nun aber die Bayern an diesem Sonntag und die Hessen in zweieinhalb Wochen bei den jeweiligen Landtagswahlen im Oktober entscheiden werden, bleibt vorerst offen. Klar ist nur: Wahlkämpfe, die einst am Stand, bei Großkundgebungen auf den Marktplätzen und in Bierzelten, bei Podien und beim Blumenverteilen am Tag vor der Wahl ihre für alle sichtbaren Höhepunkte erreichten und dort auch entschieden wurden, gehören der Vergangenheit an.

Und auch wenn noch immer die „Bierzelttauglichkeit“ etwa bei der Wahl des CDU-Landtagsfraktionschefs in Sachsens gerade erst als Hauptgrund für seine Eignung kommuniziert wurde von seinen Unterstützern, ist damit längst etwas anderes gemeint: „Bierzelttauglichkeit 4.0“ bedeutet weniger Nehmerqualitäten beim Maßkrugstemmen, es geht jetzt um eine Art Volksnähe via Social Media.

Voigt stellt darüber hinaus fest: „Während sich die AfD im permanenten Kampagnenmodus befindet, gibt es in allen anderen Parteien ein Dornröschenschlaf in den politischen Führungsebenen. Sie haben noch nicht begriffen, dass die Digitalisierung zur kommunikativen Waffengleichheit zwischen den Parteien führt.“

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